Die Rosensymphonie

Abb. oben: Abseits der populären Hunds-Rose warten in Österreich mehr als 30 Wildrosenarten auf ihre Entdeckung. Die abgebildete "Alpenhagrose" (Rosa pendulina) ist der Volksheilkunde noch einigermaßen gut bekannt. Können wir auf den Rest verzichten? (Foto: Vogt)

Mit der Hundsrose im Dornröschenschlaf

Wer Vitamin C-reiche „Hetschepetsch“ der Hundsrose sammeln möchte, sollte hoch auf den Berg steigen oder vielleicht gleich auf eine andere Stammpflanze wechseln. Eine vergleichende Studie über den Ascorbinsäuregehalt der Hagebutten von sechs Wildrosenarten stellt die Lieblingsrose der Volksheilkunde und des Apothekers an letzte Stelle und hebt Glanz-Rose, Hängefrucht-Rose und Gebüsch-Rose auf das Siegerpodest. Der Fall erinnert an die Silber-Weide, die trotz ihrer „Schlusslichtposition“ im Salicylatgehalt über 100 Jahre als geeignete Stammpflanze in Arzneibüchern geführt und in etlichen Zubereitungen hoffnungslos unterdosiert wurde (Zum Weiden-Beitrag). Bei der Hundsrose geht es aber nicht nur um die zur Wertbestimmung herangezogene Ascorbinsäure im Fruchtfleisch, sondern um bisher zu wenig beachtete Phytamine der „Hagebuttennüsse“ im Inneren der Scheinfrucht. Sollen wir Dornröschen weiterhin schlafen lassen oder aus dem Vitamin C –Rausch sanft wachküssen?

Abb. oben: Der 2. Platz im „Hetscherl-Wettlauf“ um den höchsten Vitamin C -Gehalt ging an die im Gebirge recht häufig anzutreffende Hängefrucht-Rose (R. pendulina). Sie ist im Regelfall leicht an dem „Flaschenhals“ und die steil nach vorne gerichteten Kelchblätter zu erkennen. (Foto: Vogt D.)

Knospe für das Mädchen, Holz für den Gefallenen

Kein anderes Gewächs führt Liebe und Tod näher zusammen als die Rose, wenn wir in der europäischen Kulturgeschichte nach diesem Dualismus suchen. „Welcher Jüngling umarmte Dich auf dem Rosenbette?“, richtet der griechische Dichter Horaz bereits im 1. Jhd. v. Chr. die Frage an die schöne Pyrrha und zugleich Sinnbild der weiblichen Lust. Schon zu Zeiten Alexander des Großen wurden von den Hellenen Jungfrauen und Rosenknospen als „Nymphen“ gleichgestellt. Der im Zuge der Völkerwanderung von Italien nach Norden getragene Rosenkult traf bei den Germanen auf eine vollkommen andere Bedeutung der Holzpflanze: Galt im mediterranen Raum der „Rosengarten“ als eine Metapher für die Jungfrau Maria, so war bei nordischen Völkern damit der Friedhof gefallener Helden gemeint, denn als „Rose“ wurde auch die tödlich blutende Wunde des Ritters bezeichnet. Mit dem Feuer von Rosenholz sollten Gefallene den Weg in das Jenseits finden. Später, vielleicht im Frühmittelalter, vermischte sich die Symbolik für Blut, Tod, Liebe und Fortpflanzung. Von den vielen auf die Sexualität anspielenden Sprichwörtern des Volksmundes soll eines zur Heilpflanzenkunde überleiten: „Auch aus der schönsten Rose wird einmal eine Hagebutte!“ Genau an dieser Stelle wird es nun spannend für die Phytotherapie, denn die Bedeutung der botanisch betrachteten Sammelfrucht steht weit über dem Nutzen der Blütenblätter als mildes Adstringenz bei Entzündungen der Mundhöhle.

Abb. oben: Wählt man den Vitamin C-Gehalt als Qualitätsmarker, ist man mit den „Hetscherln“ der weit verbreiteten Hunds-Rose (Rosa canina s. str.) nicht gut bedient. Zu den typischen Frucht-Merkmalen zählen gefiederte Kelchblätter, eiförmige Gestalt, konvexe Ringscheibe (oberer „Abschluss“ zum Griffelkanal) und eine unbehaarte, ohne Stieldrüsen besetzte Oberfläche. (Foto: Vogt)

Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Vitamin C-reichste im Land?

Ist das Arzneibuch im Fall der Hunds-Rose (Rosa canina s. str.) vielleicht ein Märchenbuch? Ausgerechnet jene Rose, die als arzneibuchtaugliche Stammpflanze am meisten propagiert wird und mindestens 0,3% Ascorbinsäureanteil in der Fruchtdroge (Cynosbati fructus) auf die Waage bringen sollte, erreichte in einem Vergleich von sechs Wildrosen unterschiedlicher Höhenlagen selbst in 630m nur 274mg/100g Frischgewicht. Zusammen mit dem problematischen Trocknungsprozess wird nun vielleicht verständlich, warum die im Handel befindlichen Produkte nur selten die geforderte Mindestkonzentration erreichen, wie auch ältere Untersuchungen des bekannten Pharmakologen Max Wichtl zeigen.

Während sich die Sieger im Vitamin C- „Derby“ ein hartes Match hinsichtlich ihrer „antioxidativen Stärke“ lieferten, stürzte die Hundsrose dramatisch ab und hinkte selbst der viertplatzierten Filz-Rose (Rosa tomentosa) um 47% nach. Zwar kann der Vitamin C-Gehalt der Hundsrose in einem rund 200 Meter höher gelegenem Sammelgebiet bereits um fast das Doppelte ansteigen, aber selbst in der untersuchten Klasse von 800 bis 850m Seehöhe fehlten noch immer 62% zum 1. Platz der Glanz-Rose (Rosa nitidula, syn. Rosa blondaeana, syn. Rosa canina „var. blondaeana)!

Abb. oben: Auch auf 800m Seehöhe reicht der Strahlungsstress nicht aus, um die Hunds-Rose auch nur in die Nähe ihrer Konkurrenten zu bringen. Oberhalb der Bergwaldstufe kommt nur mehr die Hängefrucht-Rose beständig vor und stellt dann wahrscheinlich alle Arten in den Schatten. (Graphik: ©Vogt D.)

Wer sich nun nicht mit dem schwierigen Kapitel der Wildrosenbestimmung befassen möchte, sammelt seine „Butten“ in Zukunft am besten zu Beginn der Fruchtreife vom Bergwald bis in die Subalpinstufe, denn aus den bisherigen Daten geht hervor: „Je höher, desto besser!“ Das entspricht auch ganz der biologischen Bedeutung von Vitamin C als „Strahlungsschutz“ gegen photo-oxidative Schäden an den empfindlichen Biomembranen der Pflanze. Der Aufstieg ins Gebirge ist jedenfalls weit weniger mühsam als das Auseinanderhalten der rund 30 Wildrosenarten und ihren noch zahlreicheren „Untergruppen“ in Österreich. Die anschließende Trocknung sollte rasch bei etwa 65°C erfolgen. Liegt der Fokus allerdings auf der therapeutischen Nutzung der Nussfrüchte im Inneren der Scheinfrucht, hat man die hitzeempfindlichen Inhaltsstoffe jetzt schon irreversibel geschädigt. Der „Arschkitzler“, wie die Hagebutte Grund berüchtigter Lausbubenstreiche im Volksmund auch heißt, ist also in jeder Hinsicht listenreich. 

Abb. oben: „Je höher, desto mehr Vitamin C!“, lautet die wichtigste Regel beim Sammeln. Die Vogesen-Rose (R. dumalis) trägt auch in der Subalpinstufe beachtlich große Hetscherl mit einem hohen Fruchtfleischanteil. Ihre blaugrünen Blätter erinnern an die Rotblatt-Rose, die allerdings keine gefiederten Kelchblätter besitzt. (Foto: Vogt D., Julische Alpen auf 1700m SH)
Abb. oben: Die bis in die Bergwaldstufe aufsteigende Filz-Rose (R. tomentosa) besitzt auffallend runde „Hetscherl“ auf einem meist 2 Mal längeren Fruchtstiel. Frucht und Stiel können kahl oder dicht mit Stieldrüsen besetzt sein. Sie erreichte den 4. Platz im Vitamin C-„Derby“ an der rumänischen “Alexandru Ioan Cuza“-Universität mit einem fast doppelt so hohem Ascorbinsäuregehalt wie die Hunds-Rose. (Foto: Vogt)

Die Rosensymphonie

Nach wie vor gilt die Hagebutte als potenteste Vitamin-C-Quelle der heimischen Flora und soll die Zitrone um das 20-fache übertreffen. Kommt man also mit der 20-fachen Menge der Zitrusfrucht auf dasselbe oder importieren wir besser gleich die stärkere Acerolakirsche aus Yukatan und rollen unsere heimischen „Hetscherl“ beiseite? Abseits einer dem „Schneller-Höher-Stärker“-Wahn verfallenen Gesundheitsindustrie haben einige begriffen, dass es nicht alleine auf die absolute Konzentration, sondern vielmehr um das synergistische und physiologisch sinnvolle Zusammenspiel von Stoffen geht. Da Antioxidantien im Zuge ihrer Tätigkeit als „Fänger“ schädlicher Radikale selbst zu prooxidativen Molekülen werden, sind stufenweise Entschärfung und Rückführung in ihren aktiven Ausgangszustand wesentliche Kriterien für den physiologischen Wert eine Radikalfängersystems. Im Falle der Hagebutte ist das „Antioxidant Network“ nicht nur durch wasserlösliche Flavonoidglykoside und Ascorbinsäure, sondern auch durch lipophile Klänge aus der Gruppe der Carotinoide und Phospholipide ausgesprochen „harmonisch“.

Abb. oben: Unterschätzt werden auch die „Nebenwirkungen“ beim Sammeln seiner Hagebutten, wie hier z.B. einer „Alpenhagrose“ in den Karawanken: Bewegung, Frischluft, Vit. D und Auszeit vom Lärm der Zeit. (Foto: Vogt D.)

Die in der pharmazeutischen Industrie durch Ausschluss, Isolation und Anreicherung von Einzelstoffen produzierten „Heilmittel“ werden dem physiologischen Geschehen in Lebewesen vielfach weniger gerecht als pflanzliche Vielstoffsysteme mit Multi-Target-Wirkung. Der Hammer ist zweifelsohne ein wirksames Werkzeug, aber ein weitsichtiger Mechaniker wird vorerst nach alternativen Drehpunkten suchen. In der Zwischenzeit hat man auch die Risiken einer übermäßigen Zufuhr antioxidativ wirksamer Nahrungsergänzungsmitteln und ihren Zusammenhang zu Funktionsstörungen im Organismus erkannt, denn auch Radikale haben für die Zellintegrität (z.B. Signalketten, Abwehrreaktionen, Endothelschutz, etc.) eine wichtige Bedeutung und sind keinesfalls nur schädlich oder überflüssig, wie meist einseitig dargestellt wird. Es kommt auf die sensible Balance zwischen oxidativen und antioxidativen Vorgängen im Organismus an.

Die übertriebene Einnahme konzentrierter Antioxidantien (z.B. Vitamin-C-Präparate) kann das körpereigene „Antioxidant Network“ auch überlasten und über prooxidative Prozesse gerade umgekehrt zu zellulären Stress führen. Für reine Vitamin C-Präparate konnte bei hoher Dosierung z.B. eine negative Wirkung auf das Cytochrome P450-Enzymsystem der Leber nachgewiesen werden, welches zu unseren wichtigsten biochemischen „Türstehern“ zählt. Ob unnatürlich konzentrierte OPC Traubenkern-Extrakte mit zum Teil schädlichen Pestizidrückständen des Weinbaus viel besser als Vitamin-C-Monopräparate abschneiden, bleibt auch fraglich. Hat man gegenüber den gängigen Herkunftsländern für Hagebutten wie Chile, China, Russland oder osteuropäische Staaten seine Vorbehalte (ökologischer Fußabdruck, Drogenqualität, etc.), sammelt man seine „Butten“ am besten selber. Als Nebeneffekt tankt man Frischluft, Vitamin D und lernt sogar seinen natürlichen Lebensraum kennen.

Steine gegen steife Gelenke?

Abb. oben: Die Kerne der Hagebutten (Cynosbati semen) sind eigentlich Nussfrüchte und werden in der Volksheilkunde als schwaches Diuretikum nur mehr selten genutzt. Ihr eigentlicher Wert liegt im entzündungshemmenden Potential. (Foto: Vogt)

Die meist dreikantig geformten „Steine“ im inneren der Hagebutte gaben bereits der antiken Signaturlehre ausreichend Anlass zu ihrer Verwendung gegen „Steinleiden“. Bis heute hat sich der Gebrauch von Hagenbuttenkernen als schwaches Diuretikum bei Nierengrieß auch ohne klinischer Evidenz in der europäischen Volksheilkunde erhalten. Aus botanischer Sicht handelt es sich bei der Droge (Cynosbati semen) um die Nussfrüchte der Rose. Erst im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts „knackte“ ein dänischer Landwirt durch Zufall den höheren Wert der Nuss: Die Verbesserung rheumatischer Beschwerden.

In drei von der renommierten Osteoarthritis Research Society International (OARSI) akzeptierten klinischen Studien wurde die Wirksamkeit von Hagebuttenpulver bei chronisch-degenerativen Gelenksveränderungen bei insgesamt 287 Testpersonen bestätigt. Nach rund 4 Wochen Einnahme kann man einen signifikanten Rückgang von bestimmten Entzündungsparametern wie dem bekannten C-reaktiven Protein labordiagnostisch nachweisen, wobei eine spürbare Verbesserung der Schmerzsymptomatik bis zur sechsten Wochen eintreten soll. Als wirksamkeitsbestimmendes Prinzip wird ein spezieller Biomembranbestandteile der Hagebuttennuss aus der Stoffgruppe der Galaktolipide mit dem Spitznamen „GOPO“ angesehen. Dennoch dürfte es auf das trickreiche Zusammenspiel mit anderen Inhaltsstoffen der „Hetscherl“ ankommen und das entzündungshemmende „Gesamtpotential“ ausmachen, weshalb mit Ausnahme der Fruchthaare die ganze Frucht verwendet wird: Echte Phytotherapie!

Abb. oben: Querschnitt der viertplatzierten Filz-Rosenfrucht. Beim Hetscherl kommt es auf das „Außen“ und auf das „Innen“ an. Beides vereint macht echte Arznei aus. (Foto: Vogt)

Zu den beobachteten Wirkmechanismen zählen eine verminderte Einwanderung von Immunzellen in entzündliche Bezirke und ein Rückgang ihrer inflammatorischen Aktivität. Freunde der Signaturlehre dürfen also weiterhin ihren „Hagebutten-Stein“ behalten. Dieser liegt nun entzündlichen Prozessen störend im Weg.   

Der Fall „Hetschepetsch“ zeigt wieder einmal mehr, dass wir uns auch Pflanzen abseits von Arzneibuchdirektiven und Volkstraditionen zuwenden sollten und kritisch wie explorativ bleiben müssen. Diejenigen, die an diesem Prozess aktiv teilhaben wollen, benötigen gleichzeitig eine gute Artkenntnis unserer Flora, um neue Traditionen einzuleiten. Daneben lädt die Rosenfrucht zu einer immer stärker verblassende Medizin mit ganzen Pflanzenteilen und Nutzung natürlicher Vielstoffsysteme ein. Bei der Hagebutte kommt es weder auf das „Innere“ noch auf das „Äußere“, sondern auf das Ganze an.

Viel Spaß beim Aufstieg zu den höchstgelegenen Wildrosen wünscht Euer Phytagoras!

Vorschau Heilpflanzenkunde 2020

03. April – 07. November 2020: Aufbaulehrgang Phytotherapie (8 Fr./Sa.-Module, 110 UE)

07. – 08. August 2020: Entdeckungsreise Doldenblütler

Vorschau Bergsommer 2020